I shall be released oder ICH II

Veröffentlicht: 3. September 2013 in Gedanken, Leben
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Es gibt immer eine Verantwortung für die Dinge die geschehen. Wir gehen nicht durchs Leben ohne Spuren zu hinterlassen. Ich meine das jetzt nicht unter dem Aspekt, dass jemand an uns denkt wenn wir mal nicht mehr sind – das ist mir zu utopisch und zu metaphysisch.

Ich bin mir bewusst, dass ich für mein Tun und Handeln verantwortlich bin.
Ich bin mir bewusst, meine Taten lösen etwas aus und mir ist klar, dass manches was geschieht nur als Reaktionen auf meine vorhergehende Aktion zu erklären ist.

Ich bin nicht dafür verantwortlich was Andere tun – stelle mich aber der Frage was ich dazu beitrage.

Ich hoffe zu begreifen was der Satz bedeutet: „Wer von Euch ohne Schuld ist der werfe den ersten Stein“

1964 war einer der letzte Jahrgänge bei der die Wehrpflichtigen die den Kriegsdienst (was für eine perverses Wort) verweigerten zur Gewissensprüfung vor einem Ausschuß des Kreiswehrersatzamtes erscheinen mussten. Zur Vorbereitung dieser „Verhandlung“ musste man schriftlich sein Gewissen begründen. Das war auch später noch der Fall. Die zusätzliche mündliche Gewissensprüfung hatte jedoch inquisitorische Züge und war nicht selten eine Veranstaltung in deren Verlauf den jungen Männern von (überwiegend) alten Männern vorgehalten wurde, dass sie nichts anderes als Feiglinge seien und Volk und Vaterland verraten würden. Den genauen Ablauf einer solchen würdelosen Veranstaltung zu schildern sprengt den Umfang dieses Posts und ist auch nicht zielführend. Ich will im folgenden davon erzählen wie es bei mir war, warum ich „verweigert“ habe und was in meiner „hochnotpeinlichen Befragung“ ablief.

Ich habe mich schon als Jugendlicher gefragt wie es sein kann, dass mir jemand befehlen darf andere Menschen zu bekämpfen, sie zu verletzen oder gar zu töten. Ein Soldat muss genau dies – auf Befehl eines Menschen einen (oder mehrere ) anderen Menschen verletzen oder töten. Der Soldat verliert in diesem „Ernstfall“ das Recht zu erfahren, ob und wenn ja, wie sein Gegenüber überhaupt für sein Tun verantwortlich ist. Wenn sich Soldaten in Schützengräben gegenüber stehen ist dieser Gedanke für mich schon unerträglich; geradezu unmenschlich und bestialisch wird dieser Gedanke jedoch im Angesicht von Waffen die unbestimmt Menschen verletzten, verstümmeln oder töten.

Es ist mir bewusst, dass es Situationen geben kann in denen es unausweichlich wird Gewalt anzuwenden. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter, wenn ich lese, dass Menschen unter Lebensgefahr anderen helfen und dann im Stich gelassen werden, erfasst mich eine Wut, ein Zorn auf die Feigheit die sich in unserer Gesellschaftt breitmacht.

Mit solchen Gedanken bin ich eines schönen Morgens im Sommer 1983 pünktlich im Kreiswehrersatzamt erschienen um mein Gewissen prüfen zu lassen.

Der Prüfungsausschuss bestand aus vier Menschen, von denen aber nur drei stimmberechtigt waren. Zwei der „Prüfer“ waren von irgendwelchen Regionalparlamenten entsandt, der dritte Prüfer war von der Bundeswehr. Der (nicht stimmberechtigte) Vorsitzende dieses Inquisitionskomitees war ebenfalls von der Bundeswehr und derjenige der 90% der Fragen stellte.
Am Rande bemerkt – viele Jahre später habe ich gelernt was man in der Kommunikationspsychologie als „inquisitorsiche Frage“ bezeichnet, wie man diese Fragetechnik einsetzt und was man damit häufig auslöst. Viele Fallbeispiele entstammten den „Gewissensprüfungen“ aus den 70er und frühen 80er Jahren des letzten Jahrhunderts.

Zurück ins Jahr 1983. Nach einigen Minuten in einem tristen Amtstubenwartezimmer öffnete sich die Tür in ein weiteres tristes Amtszimmer. Der Mann der in diesem Moment vor mir stand, war gefühlt einem GeStaPo Büro entsprungen. Reitstiefel, Kniebundhose (sandbeige), strenger Seitenscheitel. Da stand er – mein Henker.

Glücklicherweise musste der Typ erst mal einige Formalitäten erledigen, wie Namen überprüfen und Ablauf dieser Posse schildern, so konnte ich meinen Puls wieder etwas drosseln und mich auf die vor mir liegenden 90 Minuten konzentrieren. Was darauf folgte waren jede Menge an den Haaren herbeigezogene, lächerlich konstruierte Fälle in denen ich mir vorstellen sollte abwechselnd mit Panzerfäusten, Maschinenpistolen und anderen absonderlichen Waffen durch unsere Republik zu schlendern. So ganz zufällig würde ich also Waffen bei mir tragen, für die man nicht einmal einen Waffenschein erwerben konnte. Aber ich, derjenige der hier grade versuchte zu erklären, dass er nicht einmal die Bedienung dieser Waffen lernen wollte, hätte genau diese bei mir wenn ich meine Freundin von einer Schule abhole, meinen Vater im Krankenhaus besuche oder mit meiner Mutter beim Einkaufen bin.

Ich lief zur Höchstform auf, erläuterte dem Typen abwechselnd die Absurdität seiner perversen Hirngespinste und ließ mir dann wieder erläutern wie ich denn seiner Meinung nach in den Besitz dieser Instrumente gelangen könnte. Schlieslich war ich vorbereitet, hatte alles gelesen was es an „Abwehrschriften“ gab. Ich kämpfte wie ein Löwe gegen das Establishment

Irgendwann erklärte mir dann einer der Beisitzer, dass er noch nichts über mein Gewissen erfahren hätte und ich solle endlich mal antworten und mich nicht winden wie ein Aal. Touché!

Zum „Glück“, hat genau dieser Beisitzer dann einen Fall konstruiert der in seinem Szenario realistischer ausgefallen ist.

Ich stehe im ersten Stock einer Schule an einem offenen Fenster. Es ist Pause, die Schüler sind auf dem Hof als ein potentieller Amokläufer den Schulhof betritt, unter dem Fenster stehen bleibt und offensichtlich ein Blutbad unter den Kindern anrichten will. Ich kann das verhindern in dem ich einen großen, schweren Blumentopf aus dem Fenster auf diesen Menschen stoße.
Dabei werde ich diesen mindestens schwerst verletzen, vermutlich aber töten.

Ich habe darauf geantwortet, dass ich sicher in dieser Situation spontan handeln würde und den Topf werfe.
Der Vorsitzende war sofort Feuer und Flamme und wollte mir einen Vortrag über die Verlogenheit meiner Motive halten. Ich habe ihn damals sehr bestimmt unterbrochen. Quatsch, ich war sauer und hab ihn angefaucht, ich hätte genug von seinen blödsinnigen und dummen Fragen. Dann habe ich mich wieder an den Beisitzer gewandt und ihm erklärt, dass ich mir bewusst bin damit schuld an der Verletzung oder dem Tod dieses Menschen zu werden, der zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts getan hat.

Dann habe ich mich an den Vorsitzenden gewandt und deutlich gemacht, dass meine Schuld größer wäre und ich mit dieser Schuld nicht leben wolle, wenn ich untätig dem morden zusehen würde. Und genau deshalb, weil die Schuld soviel größer wird wenn ich nichts unternehme, entscheide ich mich dafür, das Schlimmste zu tun – deshalb entscheide ich mich notfalls zu töten.

Darauf hin habe ich meinen Richtern erklärt, dass sie mir es jetzt ins Gesicht sagen sollen wenn sie glauben ich sei ein feiger Drückeberger.

„Wer von Euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein!“

Ich hatte verdammte Angst „durchzufallen“, gleichzeitig habe ich mich unendlich befreit gefühlt. Ich hatte mich befreit von den Zwängen der Vorbereitung auf die Verhandlung, ich hatte mich befreit von der Absurdität der Geschichten meines Scharfrichters.

Viele Jahre später zupfte ich auf der Bassgitarre einer Bluesband rum. Lange Haare, Joints, Bier, Mädchen. Unser Sänger schleppte irgendwann eine Kasette mit einem Dylan-Stück an. Wir übersetzten den Text, genossen die Musik. Unser Keyboarder schaltete sein Lesley an, griff auf seiner Ersatzhammond in die Tasten, spielte den Pianoriff,  Gitarren schrubbten, ein Schlagzeug, der Bass knurrte den Rhythmus. Es wurde die Hymne unserer Konzerte, es wurde zur Hymne unserer Freiheit. In meiner Erinnerung klingt es genau so …

 

They say evrything can be replaced,
Yet evry distance is not near.
So I remember evry face
Of evry man who put me here.
I see my light come shining
From the west unto the east.
Any day now, any day now,
I shall be released.

They say evry man needs protection,
They say evry man must fall.
Yet I swear I see my reflection Some place so high above this wall.
I see my light come shining
From the west unto the east.
Any day now, any day now,
I shall be released.

Standing next to me in this lonely crowd,
Is a man who swears he’s not to blame.
All day long I hear him shout so loud,
Crying out that he was framed.
I see my light come shining
From the west unto the east.
Any day now, any day now,
I shall be released.

Man sagt, alles ist zu ersetzen
Aber nicht jede Ferne ist nah
Deshalb erinnere ich mich an jedes Gesicht
Jedes Menschen, der mich hergebracht hat
Ich sehe mein Licht leuchten
Vom Westen bis zum Osten
Jeden Tag jetzt, jeden Tag jetzt
Werde ich freigelassen

Man sagt, jeder braucht Schutz
Man sagt, jeder muß fallen
Aber ich schwöre, ich sehe mein Spiegelbild

Irgendwo hoch über dieser Mauer
Ich seh mein Licht leuchten
Vom Westen bis zum Osten
Jeden Tag jetzt, jeden Tag jetzt
Werde ich freigelassen

Neben mir in dieser einsamen Menge
Steht einer, der schwört, er sei ohne Schuld
Die ganze Nacht höre ich ihn so laut schreien
Und rufen, man habe ihn hereingelegt
Ich sehe mein Licht leuchten
Vom Westen bis zum Osten
Jeden Tag jetzt, jeden Tag jetzt
Werde ich freigelassen
© Bob Dylan

 

 

 

 

 

 

 

Kommentare
  1. Ich wurde in der Abizeitung ja als professionelle Wehrkraftzersetzerin bezeichnet, weil ich meinen damaligen Freund dazu gebracht hatte, Zivildienst statt Wehrdienst zu leisten. Allerdings musste er sich meines Wissens keiner derart strengen Prüfung unterziehen. Hut ab vor deiner Standfestigkeit!

  2. Oh, die maroonsche Version kannte ich tatsächlich noch nicht. Dankefein für’s Teilen. Und Ihr Text liest sich auch sehr angenehm. Wie schön, noch mehr guter Lesestoff, jucheh!

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